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Ein Becher voller Mut

Kennst du das? Eine Viertelstunde reitest du schon im Viereck. Dein Pferd läuft brav ganze Bahn und die verschiedenen Bahnfiguren. Plötzlich bleibt es aber stehen und weigert sich an der Ecke bei K vorbeizutraben.

 

Letzte Woche passierte der zwölfjährigen Julia und ihrer Haflingerstute Lotte genau das. (Namen wurden geändert.) Ein leichter Brise ließ die Blätter von einem Baum neben dem Viereck runter rieseln. Jedes Mal, wenn Lotte diesem Baum vorbeiging, spannte sie sich ein bisschen an und Julia war nicht erfahren genug, um das zu merken. Als Lotte dann streikte, rief Julia ganz überrascht – „Die Ecke hat Lotte bis jetzt gar nichts ausgemacht!“ Ich erklärte es ihr so …

 

Jedes Pferd besitzt nur eine gewisse Menge Nervenstärke. Nennen wir es mal Mut oder Gelassenheit. Stellen wir uns dann vor, dass das Pferd einen Becher besitzt, der mit Wasser oder einer anderen beliebigen Flüssigkeit gefüllt ist. (Bei mir heißt es in Englisch „Cup of Courage“ und beim Fluchttier Pferd ist es tatsächlich oft Mut, den es braucht.) Jedes Mal, wenn Lotte ihr Mut zusammennahm und an diesem Baum vorbeiging, war es, als ob sie einen tiefen Schluck aus dem Becher nahm. Irgendwann war der Becher dann leer und Lotte hatte nicht mehr genug Mut um den Monsterbaum vorbeizulaufen.

Es gibt Tage, an denen es uns ähnlich geht. Es staute heute fürchterlich auf dem Weg in die Arbeit. Der Chef war unmöglich. Autsch, man hat seinen Finger in der Kasse geklemmt. Die hungrigen Kinder quengelten non-stop, als man sie vom Hort abholte. Allmählich wurde der Gelassenheitsbecher ziemlich leer. Und dann kam der Mann nach Hause und beschwerte sich über eine Kleinigkeit – und ohne es zu wollen, fing man an zu schreien.

 

Anhand dieses Beispiels kann man sehen, dass nicht nur die vorigen fünfzehn Minuten die Menge „Wasser“ im Becher bestimmen. Die Becher mancher Pferde sind von Haus aus etwas voller. Rasse, Typ, Haltung, mögliche Schmerzen und individuelle Lebensgeschichten sind einige Faktoren, die den Wasserpegel beeinflussen. Aber es gibt auch Sachen, die wir gar nicht erfahren – vielleicht ist das Pferd von seinen Kumpeln im Offenstall traktiert worden, während der Nacht waren möglicherweise Rehe auf der Weide. Das Heu war nicht so gut, und der Bauch hat gezwickt.

 

Wie wird der Becher aufgefüllt? Zuerst die schlechten Nachrichten. Das Wasser wird immer in größeren Schlucken getrunken als man nachschenken kann. Vertrauen ist schneller verloren als gewonnen.

Als Erste, lerne die Körpersprache deines Pferdes kennen. Je früher man merkt, dass es sich anspannt, desto früher kann man reagieren.

Mische dann die schweren Aufgaben mit den leichten. Wenn Julia immer wieder in der sicheren Ecke des Vierecks gearbeitet hätte, und nur ab und zu am bösen Baum vorbeigeritten wäre, wäre Lottes Becher nie ganz leer geworden. Im Allgemeinen versuchen Pferde ihre Reiter zufriedenzustellen, wenn sie die Chance dazu haben. Übrigens ich halte nichts von Trainingsmethoden, die Pferde zwingen an furchteinflößenden Objekten vorbeizugehen, bis sie nicht mehr reagieren.  Meiner Erfahrung nach sind die Pferde dann oft nicht „desensibilisiert“, sondern haben aufgegeben und sich geistig von der Situation entfernt.

 

Wenn der Becher einmal leer ist - DANN NIMM DAS PFERD AUS DER SITUATION RAUS. In solch einer Stress-Situation, kann das Pferd nichts  lernen.

TTouches®, Kopfsenken und andere Arbeit aus der Tellington Methode® helfen den allgemeinen Stresspegel von Pferden zu senken. Die Menge Mut im Becher wird größer.

Sorge für eine möglichst Stress-freie Umgebung für dein Pferd. Viel Bewegung, gute Weide Freunde, ausreichende Futterzeiten und schmerzfreie Hufe, Rücken und Zähne sind Voraussetzungen für gelassene Pferde. Dazu kommt ein faire Reitweise mit einem balancierten Reiter.

 

 

Dann  wird den Tag kommen, wo dein Pferd und du einer größeren Mutprobe ausgesetzt sind. Vielleicht seid ihr das erstmals auswärts auf einem Kurs. Wenn du bis dahin fair mit deinem Pferd umgegangen bist, und auf seine Bedürfnisse gehört hast, dann sind die Chancen sehr groß, dass dein Pferd all seinen verfügbaren Mut und noch ein bisschen mehr zusammennimmt  und die Aufgabe mit Bravour meistert.