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Raum Orientierung

Auszug aus meinem Tagebuch

Ein junges, großes Pferd wird von der Weide auf den Hof geführt. Es wohnt noch nicht lange hier. Seine Unsicherheit ist ihm deutlich anzusehen. Seine Oberlippe ist gespitzt, sein Kinn ist klein und hart. Sein Unterhals ist angespannt und es trägt seinen Kopf sehr hoch. In dieser Position können Pferde Objekte auf dem Boden nicht scharf sehen.

 

Da ich nebenan mit einem anderen Pferd beschäftigt bin, sehe ich, wie ängstlich das junge Pferd auf die unbekannte Umgebung reagiert. Weil es hin und wieder wegspringen möchte, kommt unvermeidbar Zug auf den kurzgehaltenen Führstrick. Das Pferd versucht seinen Kopf zu drehen, um die anderen Pferde in der Nähe besser zu sehen. Aber weil sein Körper durch die Anspannung so steif ist, schert das Pferd bei dieser Bewegung mit seiner Schulter aus. Dabei macht es immer wieder unsanft Kontakt mit dem Menschen am anderen Ende des Führstricks, der in einem ungünstigen Blickwinkel zum Pferd steht.

 

„Boah!“, schimpft der Mensch „Das Pferd ist so dominant, es hat null Respekt für meinen Raum.“

 

Szenenwechsel

 

Ich unterrichte eine Tellington-Bodenarbeit-Einheit. Die Frau und ihr Pferd haben vor kurzem den Stall gewechselt und ich sehe sie gerade zum ersten Mal nach dem Umzug. Die Integration in die kleine Herde läuft anscheinend nicht komplett reibungslos. Die anderen Herdenmitglieder vertreiben das Pferd noch von einigen der Ressourcen, z. B. Schatten. Die Frau ist beunruhigt, sie macht sich Sorgen um ihr Pferd und hat Angst, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen hat. Sie redet schnell und ich merke, sie atmet unregelmäßig.

 

Ich freue mich, dass es im neuen Stall genügend Stangen gibt, um ein Labyrinth zu bauen, um am Gleichgewichtsmangel des Pferdes zu arbeiten. Aber es entsteht etwas Chaos. Ich nehme das Pferd selbst in die Hand; es ist nun überraschend konzentriert und meistert die Aufgabe. Ich schicke die Frau allein durch das Labyrinth. Aha – da liegt das Problem! Obwohl der Weg vorgegeben wird, hat die Frau Probleme mit der Orientierung und kann meinen Anweisungen nicht folgen. Glücklicherweise ist gerade das Begehen eines Tellington-Labyrinths auch eine Lösung für dieses Problem und nach ein paar Durchgängen ist die Frau merklich ausgeglichener. Auch mit Pferd klappt es jetzt gut.

 

Was haben diese zwei Geschichten gemeinsam?

 

Die Verbindung zwischen Stress und räumlichem Bewusstsein. Diese Verbindung wurde beim Menschen schon erforscht, beim Pferd hingegen noch nicht. Aber allein der Gedanke, dass ein Verhalten möglicherweise durch physiologische Vorgänge verursacht wird, macht mich persönlich empathischer und lösungsorientierter in meiner Arbeit mit Pferden, als wenn ich ein Pferd einfach als „respektlos“ abstemple.